Gratismut
Letztens las ich den Begriff „Gratismut“ in einer Diskussion um Personen, die sich in Kampagnen in sozialen Netzwerken mit scheinbar mutigen Äußerungen zu Wort melden, im Grunde aber dafür nichts zu befürchten haben. Es handelt sich nicht um echten Mut, sondern opportunistisches Verhalten. Da der Begriff wunderbar zum Zeitgeistverhalten vieler Personen in Politik, Medien und sozialen Netzwerken passt, sollen hier die psychologischen Hintergründe näher beleuchtet werden. Leider ist das Phänomen noch wenig erforscht und auch hochgradig tabuisiert, da das Verhalten meist der herrschenden Mehrheitsmeinung entspricht. Nur wer gegen den Main-Stream schwimmt, ist in der Regel tatsächlich mutig.
Verständnis und Definition
Der Begriff „Gratismut“ wurde schon vor 60 Jahren von Hans Magnus Enzensberger geprägt. Sein Verständnis von Gratismut war: "Als gratismut bezeichnet man eine haltung, mit der aussagen gemacht oder handlungen begangen werden, die keinerlei risiken, gefahren oder negative konsequenzen mit sich bringen, sprich nichts "kosten", demnach "gratis" sind. Da die prämisse für mut allerdings aus potenziellen risiken, gefahren und/oder negativen konsequenzen besteht, also eine potenzielle "opferung" im raum steht, handelt es sich beim gratismut um einen widerspruch. Freilich könnte man statt gratismut schlicht von feigheit sprechen, doch wohnt dem neologismus (gewollter) sarkasmus inne, da sich mit gratismut eine offen zur schau gestellte, moralische selbstüberhöhung verbindet, deren grundlosigkeit sowie anmassung entweder nicht begriffen oder bewusst ignoriert wird" (hans magnus enzensberger). Auf der Website www.gratismut.de finden sich noch weitere Betrachtungen zum Begriff und Beispiele für Gratismut.
Wahrer Mut war schon immer rar – und wird derzeit noch kostbarer
Wahrer Mut war schon immer rar. Er bedeutet, sich alleine oder in einer kleinen Gruppe gegen eine Mehrheit zu stellen. Besonders die sozialpsychologischen Konformitäts- und Gehorsamkeitsstudien der 1960-er und 1970-er Jahre zeigten, dass in normalen Bevölkerungsgruppen 10% bis maximal 25% der Probanden echte Zivilcourage an den Tag legten. Mutig sein, bedeutet Risiken einzugehen und Opfer zu bringen. Zu echtem Mut gehört die Überwindung von Angst, während Gratismut eine Selbstdarstellung ist. Die Risiken von Mut bestehen etwa darin, dass man stigmatisiert und im Stich gelassen wird, Freunde verliert, sich die Karriere zerstört oder Privilegien verliert. Im schlimmsten Fall kann man Freiheit oder sogar das Leben verlieren. Ich rede hier nicht von uneinsichtigen Verschwörungstheoretikern. Auch diese fühlen sich mutig, haben aber im Kern das Problem, die Realität nicht dechiffrieren zu können und überall Abgründe zu sehen.
Mut bringt Freiheit – Gratismut bringt Applaus
Gerade in Diktaturen verstehen es die Machthaber und deren Handlanger, Personen mit physischer oder psychischer Gewaltandrohung so einzuschüchtern, dass die Quote der Mutigen immer geringer und der Preis für Mut immer höher wird. Unsere Geschichte zeigt dennoch, dass es diese Mutigen immer wieder gab, auch im Widerstand gegen das NS-Regime und später das DDR-Regime. Öffentlich gezeigter Mut ist eine klassisch männliche Tugend und gehört zum früher hoch geschätzten männlichen Rollenmodell. Dies zu betonen, ist besonders wichtig, da diese Geschlechtsrolle heutzutage gerne nur noch negativ gesehen wird. Sie hatte und hat jedoch auch Vorzüge, die man heutzutage nicht vergessen sollte. Die großen Freiheitskämpfer – Wilhelm Tell, Martin Luther King, Nelson Mandela – zeigten dieses Verhalten und waren in ihrem mutigen Kampf für Freiheit auch sehr alleine und nur auf sich gestellt.
Das heißt jedoch nicht, dass Frauen diesen Mut nicht gezeigt haben. Auch dafür gibt es viele historisch verbürgte Beispiele. Und oft haben sich diese mutigen Frauen auf männliche Vorbilder berufen, von Jesus bis Martin Luther und Martin Luther King. Der Unterschied zwischen Männern und Frauen besteht in den Zahlen. Es sind in der Geschichte deutlich mehr Männer gewesen, die diesen Mut öffentlich gezeigt haben. Frauen als Mütter mussten alleine schon wegen ihrer Kinder vorsichtiger sein. Aber der klassische, aufopfernde männliche Mut widerlegt alleine schon den Mythos vom Patriarchat als alles erklärendes Herrschafts- und Unterdrückungsmodell. Das männliche Rollenverhalten rührt auch von der männlichen Rolle in der Evolutionspsychologie her, sich in Konflikten durch Mut zu bewähren. Heute sind alle Menschen mit klarem Blick, Wunsch nach Humanität, Abwehr von Tribalismus und Wille zur gesellschaftlichen Aufklärung aufgerufen, gegen die sektiererischen Tendenzen von Identitätspolitik und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (vor allem gegen ältere, weiße Männer) Flagge und Rückgrat zu zeigen. Denn da in der heutigen Gesellschaft Rassismus gegen Nicht-Weiße immer mehr abgenommen hat, sind die neuen Formen von Diskriminierung und Rassismus zu betrachten und zu bekämpfen. Die Konfliktlinien verlaufen längst nicht mehr dort, wo die Gratismutigen es uns weiß machen wollen. Andersartigkeit im sexuellen und ethnischen Sinne sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und akzeptiert. Sie müssen dort nicht mehr durchgesetzt und verteidigt werden. Der Blick muss sich auf die jetzt Ausgegrenzten und Diskriminierten richten. Dies sind alte Menschen (wegen Jugendwahn), Männer (wegen Radikalfeminismus) und Konservative (wegen linker Dominanz).
Gratismut ist Heuchelei
Gratismut ist Mut, den man eigentlich nicht braucht. Als Beispiel: Wer sich in Deutschland für “Ehe für alle” ausspricht, braucht dafür keinen Mut mehr. Dies ist in der Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert. Wer sich aber in einem islamisch-geprägten Land für die Schwulenehe ausspricht, braucht dafür echten Mut. Sein Mut kann ihm viel kosten: Verfolgung, Gefängnis, Tod.
Hierzulande geht es darum, dort Forderungen zu erheben, wo es riskant ist und auf Widerspruch stößt. Worin dies besteht, stellt den eigentlichen Kompass des Mutes dar. Es gibt schon längst neue, diskriminierte Gruppen, für die sich kaum jemand einsetzt: Weiße; alte Männer; Professoren, die konservative Meinungen vertreten; Muslime, die sich vom Islam abgesetzt haben; Personen, die gegen die Frauenquote in Politik und Verwaltung eintreten. Nennen wir dies die neuen Mutthemen in der Gesellschaft. Und beim Betrachten wird schnell deutlich, dass sich nur ganz wenige trauen, hier gegen den Strom zu schwimmen. Oft sind es die gesellschaftlich ungeliebten Propheten, die echten Mut zeigen. Ein untrügliches Zeichen, dass es sich um Mut und nicht Pseudomut handelt. Heutzutage mehr Einfluss und Macht für Frauen zu fordern, ist ein Beispiel für Pseudomut, weil dieser Prozess schon länger unterwegs ist und sich bald bis zur Übererfüllung vollzieht. Im Jahre 1900 wäre es mutig gewesen! Schon heute schließen 10% mehr Mädchen mit der Hochschulreife ab als Jungen. Ein wunderbarer Bildungserfolg für die früher benachteiligten Mädchen, eine Katastrophe für die Jungen. Für wen setzen sich Politik und Gleichstellungsbeauftragte ein? Immer noch mit MINT-Mädchen-Tagen für die Siegerinnen der Gleichstellungspolitik! Das ist Gratismut. Sich für die ehemaligen Gewinner und heutigen Verlierer einzusetzen, wäre echter Mut!
Gratismut ist gesellschaftlich gefährlich
Somit ist Gratismut geprägt durch das Ausbleiben größerer Risiken einerseits, das Zeigen einer großen Klappe andererseits. Wer gratismutig ist, tut Dinge, die letztlich ungefährlich oder auch einfach unpassend sind. Die Gratismutigen demonstrieren keinen Mut, sondern eine Zeigebereitschaft, oft einen Zeigezwang. Dies ist die wahre Triebfeder des Gratismutes, nämlich der narzisstische Antrieb, gesehen und für mutig gehalten zu werden. Das Problem beim Gratismut ist, dass die Beobachter auf falsche Fährten gelockt und in die Irre geführt werden. Sie halten die Äußerungen und Handlungen der Gratismutigen für mutig, ohne das narzisstische Spiel dahinter zu durchschauen. Wenn sie ihren Irrtum und die Verführung erkennen, ist es meist zu spät. Die entstehende Wut aufgrund der Täuschung richtet sich dann oft nicht gegen den Verursacher, sondern gegen andere, sogenannte Sündenböcke. Der Begriff „Sündenbock“ stammt aus der hebräischen Geschichte und bezeichnet die Verschiebung der Schuld auf ein schwächeres Glied der Gesellschaft.
Gratismut und Narzissmus
Gratismut kommt vor allem auch immer dann vor, wenn eine Person sich selbst zur Schau stellen und andere mit ihrem vermeintlichen Mut beeindrucken möchte. Dabei lässt er keine Zweifel an dem hehren Mut seines Verhaltens aufkommen. Man muss ihm die narzisstische Show, die dahinter steckt, also nachweisen. Deshalb ist der politisch-gesellschaftliche Widerstand gegen die Show der Gratismutigen so wichtig. Im Kern ist ein solches Verhalten als egoistisch und feige anzusehen. Ganz egal, um welche Situation oder welches Thema es sich im Einzelfall handelt, die gratismutig handelnde Person ist in aller Regel nicht wirklich mutig, sondern opportunistisch gegenüber ihrer mächtigen Peer-Group. Im Kern handelt es sich um eine intrapsychisch negative Verhaltensweise aus Schwäche, Angst und geringem Selbstwertgefühl, die jedoch der Umwelt als noble, hehre oder gar riskante Tat verkauft wird. Durch Gratismut kann eine selbstunsichere Person ihren fragilen Selbstwert stabilisieren.
Nicht nur Politiker, sondern auch ganz normale Durchschnittsmenschen, die nicht im Rampenlicht oder im Fokus des öffentlichen Interesses stehen, können sich derartig verhalten. Hier kann zum Beispiel versucht werden, sich innerhalb der eigenen Familie durch bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen einen Vorteil zu verschaffen. Wenn ein Vater gegenüber seinen Kindern keine eigene Position bezieht, sondern die Erziehungsvorgaben der Mutter unterstützt, obwohl er ganz anders empfindet, ist dies Gratismut im kleinen, familiären Kontext. Gratismut bedeutet, sich mit Verhaltensweisen in Szene zu setzen für die man Applaus erwartet, obwohl man feige und opportunistisch ist.
Selbsterkenntnis nahezu unmöglich
Der Gratismutige hat kaum eine Chance, die Feigheit und Dummheit seines Verhaltens zu erkennen. Da er sich im Besitz der moralischen Überlegenheit wähnt, gibt es keine Notwendigkeit, die eigene, vermeintlich hehre Position zu überdenken oder gar fallenzulassen. Um seinen eigenen kognitiven Irrtümern auf die Spur zu kommen, würde es der Fähigkeit der Distanzierung von den eigenen Strategien bedürfen. Diese ist jedoch im Regelfall nicht gegeben, da kein Leidensdruck entsteht, solange die fadenscheinige Gratismutstrategie nicht von anderen offengelegt wird. Durch Gratismut kann man darüber hinaus in verlogenen Gesellschaften jede Menge Orden und Gratifikationen einsammeln. Die Leitmedien feiern heutzutage die Gratismutigen, die sich für Dinge einsetzen, die längst durchgesetzt und akzeptiert sind, während die drängenden Themen der Gegenwart und Zukunft liegenbleiben. In der Regel schieben sich die Gratismutigen die Orden und Lobesreden gegenseitig zu. So entsteht ein System, in dem Selbsterkenntnis oder gar Selbstveränderung mit wahrem Mut nahezu unmöglich wird. Es bedarf dann schon eines „Saulus-zu-Paulus“-Erweckungserlebnisses, um aus den öden Kreisläufen des Gratismuts auszusteigen.
German Gratismut
Der deutsche Begriff „Gratismut“ ist kaum übersetzbar. Er reflektiert die Möglichkeiten unserer Sprache, komplexe Sachverhalte kompakt darzustellen, ohne dass das Verhalten speziell deutsch ist. Sollte der Begriff bekannter werden (siehe www.gratismut.de), hat er gute Chancen – ähnlich wie GermanAngst – Einzug ins Englische zu halten. „Gratismut is when a person pretends courage“, wird dann die Definition heißen. Die derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen um Wokeness und Identitätspolitik erzeugen sehr viele Gratismutige. Wenn ein Opfer schon am Boden liegt, weiter auf ihn einzuschlagen – auch im symbolischen Sinn -, ist dann auch eine solche typische gratismutige Handlung, die in den sozialen Netzwerken weit verbreitet ist.
Men´s Mental Health und Gratismut
Um abschließend nochmals auf die Geschlechtsrollen zurückzukommen, soll betont werden, dass es für Männer wie Frauen wichtig ist, sich authentisch und nicht opportunistisch zu verhalten. Gerade Männer, die derzeit mit alten und neuen Rollenanforderungen kämpfen, sollten nicht ihre Traditionen und archetypischen Verhaltensmuster vorschnell über Bord werfen. Vielleicht werden sie ja noch gebraucht, wie sich jetzt im Ukraine-Krieg zeigt. Echten Mut zu zeigen, steigert das Selbstwertgefühl, die persönliche Ausstrahlung, Selbstständigkeit und Autonomie. Mut ist also ein Weg zu psychischer Gesundheit, Gratismut ist ein Weg zu Pseudopersönlichkeit, wie er sich z.B. im Mr-Nice-Guy-Syndrom zeigt.
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